Helden

Abu Dun hatte offensichtlich wieder einmal beschlossen, das zu groß geratene Kind zu spielen. In letzter Zeit tat er das öfters, vielleicht häufiger, als gut war. Andrej fragte sich, ob er vielleicht Grund hatte, sich ernsthafte Sorgen um seinen Freund zu machen, schob den Gedanken aber dann mit einem ebenfalls nur gedachten Achselzucken von sich.

Wahrscheinlich war es nur Abu Duns Art, mit dem fertig zu werden, was das Schicksal ihm angetan hatte. Wenn das der ganze Preis war, dachte er, dann war er gering. Andrej hatte Männer getroffen, starke Männer, die dem Tod ins Gesicht gelacht und von nichts und niemandem Angst gehabt hatten, die an weniger zerbrochen waren als dem, was Abu Dun widerfahren war.

Er schlug sich noch einmal mit den flachen Händen auf den sandbraunen Kaftan, den er über seiner normalen Kleidung trug, warf Abu Dun einen bösen Blick zu, als sich auf dessen Lippen angesichts der aufwirbelnden Staubwolke schon wieder ein breites und diesmal unübersehbar schadenfrohes Grinsen bemerkbar machte, und drehte sich einmal im Kreis, jetzt aber sehr langsam und ohne das Schwert in der ausgestreckten Hand vor sich zu halten, um Abu Dun keinen Anlass zu einer kindischen Bemerkung zu geben. Allzu viel gab es allerdings nicht zu sehen. So weit sein Auge reichte, und in jeder erdenklichen Richtung, erstreckte sich das fleckige Gelb eines erstarrten, trockenen Ozeans.

Im Osten, bereits erstaunlich weit entfernt, konnte er die winzigen Gestalten der flüchtenden Räuber auf ihren Pferden erkennen, davon abgesehen jedoch war das Land von einer erschreckenden Leere erfüllt.

Er drehte sich wieder zu Abu Dun um. "Wohin gehen wir?"

"Dorthin", antwortete Abu Dun, ohne einen Finger zu rühren oder auch nur in eine bestimmte Richtung zu sehen.

"Du gibst also endlich zu, dass wir uns verirrt haben. Du kennst den richtigen Weg nicht."

Abu Dun sah ihn vorwurfsvoll an. "Ich? Aber woher sollte ich den richtigen Weg kennen, oh Sahib. Ich bin nur ein kleiner, dummer Mohr, der ..."

"Du bist nicht klein", unterbrach ihn Andrej. Er machte eine ärgerliche Geste, von der er wenigstens hoffte, dass sie Abu Dun davon abhielt, schon wieder mit irgendeiner Albernheit zu antworten. "Wir haben nichts mehr zu essen, und fast kein Wasser mehr, muss ich dich daran erinnern?"

"Und keine Reittiere", fügte Abu Dun in einem Ton hinzu, als fände er diesen Umstand höchst amüsant. "Unsere Pferde waren das Erste, was diese feigen Hunde aus dem Hinterhalt erschossen haben."

Andrej und Abu Dun

Liest man die nebenstehende Textpassage aus dem achten Band der Chronik, so drängt sich eine Frage auf: Das sollen die Helden sein?

Aber ja. "Und wie", wie der massige Nubier Abu Dun sagen würde.

Abu Dun war Flusspirat. Irgendwann. Der dunkelhäutige Koloss mit den europäischen Gesichtszügen erwähnt das so beiläufig, wie andere erwähnen es würden, dass sie früher mal in einer Backstube ausgeholfen hätten.

Was der weitaus schlankere Schwertkämpfer
Andrej früher so in Transylvanien trieb, erwähnt er
nicht. Dabei kann man es im ersten Band der
Chronik nachlesen. Und das sollte auch man
auch tun. Denn sonst erschließt sich einem
schwerlich der Charakter dieses zähen Mannes,
der Zeit seines Lebens auf der Suche ist.

Auf der Suche nach was? Nach der wahren Unsterblichkeit? Oder nach einer Sterblichen, die ihn verzaubern kann? Oder einfach nur nach den Antworten auf die brennenden Fragen, die mit dem Monster zusammenhängen, das er tief in sich selbst vergraben glaubt?

"Plötzlich war ein Hunger in ihm, den er nur zu gut kannte, und dem zu widerstehen ihm unendlich schwer fiel. Das Ungeheuer zerrte an seinen Ketten."

Andrej und Abu Dun - und die Frauen

Trotz all des Schmutzes und des eingetrockneten Schweißes auf ihrem Gesicht konnte Andrej erkennen, dass es ein sehr schönes Gesicht war; vielleicht nicht mehr ganz jung - er schätzte ihr Alter auf vielleicht vierzig, auch, wenn das bei der herrschenden Beleuchtung und ihrem bemitleidenswertem Zustand nicht unbedingt stimmen musste - und sie hatte jener Art von herber Schönheit, die man oft bei Frauen dieses Alters antrifft, und die die meisten Männer ebenso verstört, wie sie sie anzieht. Andrej erging es in diesem Punkte nicht anders.

"Es ist unhöflich, sein Gegenüber so anzustarren", sagte sie, wobei die Andeutung eines spöttischen Lächelns über ihre vollen Lippen huschte.

Und erst in diesem Moment fiel Andrej auf, was ihn an ihrem Gesicht so verstört hatte.

Es war schwarz. Ihre Züge waren ganz eindeutig europäisch, nicht afrikanischen, von dem etwas zu vollen, sinnlichen Lippen vielleicht einmal abgesehen, aber ihre Haut hatte denselben, tiefen Ebenholzton wie die Abu Duns. Andrej hatte es bisher nicht einmal zur Kenntnis genommen. Vielleicht war er einfach schon zu lange mit dem nubischen Riesen zusammen, sodass diese verwirrende Kombination zweier so grundverschiedener Rassen für ihn schon zu einem ganz normalen Anblick geworden war.

Aber das war es nicht. Sie war nicht die erste Nubierin, der er begegnete. Dieses Volk mit den so sonderbar europäisch anmutenden Zügen hatte normalerweise eine tiefbraune Haut, deutlich dunkler als die eines Arabers und erst recht als die eines Europäers, doch Abu Dun war bisher der erste (und einzige) gewesen, dessen Haut tatsächlich schwarz war, nicht einfach nur sehr dunkelbraun. Das Gesicht, in das er nun blickte, war schwarz. Im krassen Gegensatz dazu stand die Farbe ihres Haares. Unter all dem Schmutz und - wie er erschrocken registrierte - auch einer großen Menge von eingetrocknetem Blut war sie mehr zu erahnen als wirklich zu sehen, doch es musste sich um den einen ganz tiefes Rot handeln.

"Und es ist noch unhöflicher, einfach weiter zu starren, wenn man schon darauf angesprochen wird."

Andrej fuhr noch einmal und fast noch heftiger zusammen. "Verzeih", sagte er, "Ich war nur ..."

"Eigentlich", unterbrach ihn die Fremde, und wieder erschienen dieses sonderbare Lächeln, von dem Andrej spürte, dass es eigentlich keines war, für einen kurzen Moment auf ihren Lippen und verschwand dann genauso schnell wieder, "Interessiert mich weniger, was du warst, sondern wer du bist."

Andrej war nun vollends verwirrt. Einen Moment lang wusste er einfach nicht, was er sagen sollte, doch dann ließ Abu Dun hinter ihm einen leises, kehliges Lachen hören und sagte: "Verzeih, schöne Fremde. Mein Freund Andrej ist manchmal ein wenig unbeholfen, wenn es um den Umgang mit Damen geht. Ich bin Abu Dun." Er legte Andrej freundschaftlich die Hand auf die Schulter, dass dieser ächzend einen Stück in die Knie brach, und fuhr fort: "Das ist Andrej, und wir ..."

"Abu Dun?", fiel ihm die hellhaarige Frau Wort. "Der Pirat?"

Andrej und Abu Dun - und ihre Feinde

"Wenn er auch nur eine falsche Bewegung macht, schneidest du ihm die Kehle durch", sagte Andrej, und endlich verstand die Nubierin. Sie sah nicht so aus, als fände sie seine Idee unbedingt brillant, oder gäbe dem Plan auch nur die geringste Chance, trat aber dennoch gehorsam hinter Ali Jhin, schlang den linken Arm um seinen Hals, riss seinen Kopf zurück und drückte die Messerklinge mit der anderen Hand gegen seine Kehle.

Ali Jhin ächzte, wagte es aber nicht sich zu wehren, obwohl der Dolch seine Haut ritzte, sodass sich ein neues, dünnes Rinnsal zu dem nassen Rot gesellte, dass sein Gesicht, seinen Hals und seine Schultern besudelte. Blut, von dem ein verlockender, lebendiger Geruch ausging, jene uralte Essenz des Lebens, die so viel mehr war, als die meisten Menschen in ihr sahen und der er und Abu tun ihre fast übernatürlichen Kräfte verdankten.

Hastig schüttelte Andrej den Gedanken ab. Das war nicht seine eigene Gedanken gewesen. Die Bestie schwieg, aber sie war wachsam, und er musste noch wachsamer sein, wollte er nicht Gefahr laufen, von einem Feind überwältigt zu werden, der hundertmal schlimmer war als die Krieger, die draußen auf der Treppe auf sie warteten ...

Einer der Männer stürmte direkt auf ihn zu und schwang seinen Säbel, der andere versuchte, einen Bogen zu schlagen, um ihm in die Seite zu fallen. Ihre Bewegungen waren schnell und entschlossen, die Männer wussten, was sie taten.

Sie wussten nur nicht, mit wem sie es zu tun hatten.

Andrej wartete bis zum allerletzten Moment, dann duckte er sich unter dem zustoßenden Säbel des Ersten hindurch, packte sein Handgelenk und verdrehte es mit einem so harten Ruck, dass der Mann nicht nur die Waffe fallen ließ, sondern einen Moment später einen halben Salto in der Luft schlug und dann schwer auf den Rücken krachte, und noch bevor er wirklich aufschlug, drehte Andrej sich um eine Winzigkeit, knickte in der Hüfte ein und empfing den zweiten mit einem geraden Tritt vor den Brustkorb, der ihn wuchtig nach hinten und ebenfalls zu Boden schleuderte. Und auch Abu Dun war plötzlich alles andere als ruhig. Mit einer Bewegung, die so schnell war, dass man sie praktisch nicht mehr sah, ergriff er einen der beiden Soldaten und schleuderte ihn wuchtig gegen seinen Kameraden. Die beiden Krieger stürzten mit hilflos ineinander verstrickten Gliedern unmittelbar neben Arslan zu Boden.

"Nein, Hauptmann", sagte Andrej noch einmal, und so ruhig, wie er nur konnte. "Es ist nicht nötig, dass wir euch begleiten. Ich bin sicher, wir können die Angelegenheit auch gleich hier klären."

Arslan starrte ihn aus hervorquellenden Augen an. Der ganze, bizarre Kampf hatte weniger als einen Atemzug gedauert, und anscheinend hatte er noch gar nicht richtig begriffen, was überhaupt geschehen war. Sein Blick wanderte ungläubig zwischen Andrej, Abu Dun und den Soldaten hin und her, die sich nur mühsam wieder aufrappelten.

Sämtliche Bilder von Thomas von Kummant. Entnommen dem "Glut und Asche Portfolio" sowie den Comics zur Serie von Thomas von Kummant und Benjamin von Eckartsberg.

Diese Copyright-geschützten Textpassagen wurden ausnahmslos dem achten Band der CHRONIK DER UNSTERBLICHEN entnommen, der den Titel DIE VERFLUCHTEN trägt.

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